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ANMEDORE  LEBER

1948 - D A S N                                                                                                         6'

                                                                                                                         r

< S i e hieß J u tta , und ich b e g e g n e te ih r im F ra u e n ge fä n g m s M o a b it. Sie w a r                 in seinem Ausm aß keinesw egs v e rg le ic h b a r dem letzten, w a r nicht vo n heute
  d o r t in U n te rs u c h u n g sh a ft und zu g le ich K a lfa k to rin . Das b e d e u te te , d a ß sie          a u f m org e n vergessen. Er h a tte A rm u t und N o t, V e rz w e iflu n g und D e m o ra li­
  einige H auspflichten zu e rfüllen hatte, w ie das In-O rdnung-H alten von Zim ­                                     sation im G e fo lg e . Denken w ir nur d a ra n , daß auch dam als in langen
  mern d e r A n sta ltsle itu n g , das Füllen d er Krüge m it W asser v o r den Türen                                Schlangen v o r den Lebensm ittelläden N ächte hindurch die Menschen w a rte te n .
  d er E in ze lh ä ftlin g e o d e r das Schieben des W agens m it dem großen Suppen­                                 Es g a b d ie z e rm ü rb e n d e In fla tio n . Sie fa n d e rst 1923 ih r Ende. Die W irts c h a ft
  t o p f v o n Z e lle zu Z e lle , aus dem da n n d ie „ W a c h th a b e n d e " das Essen an                       lag lange brach, da uns schon dam als das M iß tra ue n d e r W e lt um gab, die
  die G efangenen austeilte.                                                                                           in jenem K rie g e e b e n fa lls einen A n g r iff D eutschlands a u f seine N a c h b a r­
  W ir hatten nur ein ig e M ale die M ö g lich k e it zu ein p a a r kurz e in a n de r zu­                           staaten sah.
  g e w o rfe n e n W o rte n . So e rfu h r ich auch nicht d ie Z usa m m e n h ä n g e ih re r
  V e rh a ftu n g . M eh r a b e r als ihre A n d eutungen ließ mich ihre G esam terschei­                            W e r e rin n e rt sich noch, d a ß , als d ie deutschen D e le g ie rte n d e r In te rp a rla m e n ­
  nung d ie durch gewisse K ontraste a u ffie l, verm uten, daß sie aus ein e r kleinen                                tarischen U nion nach 1920 zum ersten M a le w ie d e r zur K o n fe re n z in K open­
  R estauration im N o rd e n Berlins kam. Ihre kaum m itte lg ro ß e G e sta lt w irk te                              hagen geladen w aren, Belgier und Franzosen Protest erhoben „gegen die
  ebenso weich und rund w ie gedrungen und fest. Das bleiche, etwas b reite                                            Z ulassung d e r K rie g s v e rb re c h e r". Sie d ro h te n m it ihrem N ich te rsch e in e n ,
  G e sich t schien e in m a l fa s t ausdruckslos, da n n w ie d e r u n g la u b lic h w ach. Es                     sofern diese zur Tagung zugelassen w ürden. Dabei w a r schon der Friedens­
  w a r u m ra h m t v o n k u p fe rro t g e fä rb te m H a a r. N o ch sehe ich sie v o r m ir                       v e rtra g m it D eutschland geschlossen. Und erst im J a h re 1927 g e la n g es dem
   in der Lässigkeit ih re r Bew egungen, um anderseits schnell und resolut das                                        d a m a lig e n A u ß e n m in ste r S tresem ann, d e r als P e rsö n lich ke it w e it in d ie W e lt
  zu tun w a s d e r je w e ilig e A u g e n b lic k vo n ih r fo rd e rte . N o ch h ö re ich ihre                    hin e in g roß es V e rtra u e n g e n oß , m it D eutschland in den V ö lk e rb u n d e in ­
   angenehm e und v o lle Stimme und ihre kurze, bündige Rede, die einen aus­                                          zuziehen.
   g e p rä g te n M u tte rw itz v e rrie t. V erm utlich hatte sie gegen die K rie g s w irt­
                                                                                                                       Um vieles ve rschärft w u rde das M iß tra ue n de r W e lt durch H itlers Krieg, in
   schaftsordnung verstoßen.                                                                                           dem sie eine D u p liz itä t d e r Fälle sah. Die fu rch tb a re Saat des Völkerhasses,
                                                                                                                       das tra u rig e W e rk der nationalsozialistischen P olitik, ging auf. So etwas kann
   Ju tta w u ß te m it allem Bescheid, auch w ie es um d ie G e fa ng e n e n stand,                                  nicht so schnell b e re in ig t sein. V e rgleichen w ir o b e r heute m it gestern, so
   g le ic h g ü ltig o b sie sich in G e m e in s c h a fts h a ft o d e r in „ Is o la tio n " b e fa n d e n . Sie  w ird 1947 doch schon von entscheidenden M ännern des Auslandes manches
   a lle tra te n gem einsam im A b sta n d vo n d re i S chritten zum M o rg e n g a n g a u f                        W o r t fü r uns Deutsche gesprochen, das 1946 noch a b so lu t und en kb a r w a r.
   dem G e fä n g n is h o f an. M it g rö ß te m G eschick schob sich Ju tta u n a u ffä llig
   an jedem zw e ite n Tag v o r o d e r h in te r mich in die kreisende Kette. Das                                    ü bersehen w ir nicht, so sparsam sie sein m ag, die bescheidene Entw icklung
   w a r im H e rb st 1944.                                                                                            in unserem tä g lich e n Leben. S o llte d ie A u fw ä rts e n tw ic k lu n g w e n ig e r Z e it g e ­
                                                                                                                       brau ch e n , als d e r sich ü b e r J a h re e rstre cke n de a llm ä h lic h e N ie d e rg a n g ?
   Eine Flut v o n G e rü ch te n ja g te in fo lg e d e r sich ü b e rstü rze n d e n K rie g s e re ig ­
   nisse durch das Haus, dessen sch w e re r Bau nachts u n te r dem B o m b e nh a g e l                              Noch unter dem Eindruck des bitte re n und ve rzw e iflu n g svo lle n vo rig e n
   e rz itte rte . W ir a b e r saßen eingeschlossen bei Tag und N a ch t im zw e ite n                                W in te rs ve rfo lg te n w ir tie f erschreckt die N achricht, daß 1947 v ie lle ich t noch
                                                                                                                       härtere Zustände zu e rw arte n seien. A b e r seien w ir gerecht: Kleine Erleichte­
   Stock.                                                                                                              rungen sind zu spüren, die e rw arte n lassen, daß das Ausm aß der N o t doch
   Zur gleichen Zeit w urden vom V olksgerichtshof die ersten Todesurteile gegen                                       in diesem W in te r nicht g a n z so g ro ß sein w ird w ie im v o rig e n . W ie m an
   d ie B e te ilig te n vo m 20. Ju li v e rk ü n d e t. W a s b lie b uns G e fa n g e n e n a lso                   nicht an dem U m stand v o rb e is e h e n s o llte , d a ß Deutsche b e re its ins A u s la n d
   ü brig, als zwischen V e rzw e iflu n g und H offnung die W ochen verstreichen                                      gela d en w u rde n , um über unsere V erhältnisse zu berichten, so muß man
   zu lassen.                                                                                                          e b enfalls v e rfo lg e n , daß diese und jene Fabrik m it der Produktion e in ig e r
   „E rw a rte nur nichts A u ß e rg e w ö h n lich e s", m urm elte m ir Jutta zu. „Es geht                           W a re n begonnen hat, die fü r den deutschen Innenm arkt bestim m t sind.
   alles seinen G ang. Der Krieg w ird nicht m orgen zu Ende sein, keine Bom be                                         U nd a lle s dies ist das W e rk d e r sich ste tig und un e rm ü d lich Bem ühenden,
   w ird d ir den W eg nach draußen fre ile g e n und kein G erücht kann d ir helfen.                                   d e re r, d ie nicht nachlassen, in dem W ille n das Schicksal zu m eistern, d ie
   Sieh zu, daß du heute m it d ir fe rtig w irst. M an kann im m er noch m ehr aus-                                   wissen, daß ständige A rb e it mehr Erfolg verspricht, als die Spekulation a u f
   h a lte n , als man d e n k t, w e n n es so sein m uß."                                                             das Spiel in d e r L o tte rie .

   Das kla n g in unserer S ituation keinesw egs tröstlich. Und doch hat m ir Jutta                                     Dabei kann und soll nicht verschwiegen w erden, daß die Kräfte vie le r M en­
   v ie lle ic h t w ie ke in e a n d e re in jenen M o n a te n T ro st g e g e b e n , indem sie                      schen bis aufs letzte ausgepum pt sind, daß ein M aß an Energien a u fg e w a n d t
   im m e r oh n e Rücksicht a u f sich im K le in e n h a lf, w o es nur m ög lich w a r. Sie                          w u rd e , w as sich kaum w ie d e r re g e n e rie re n läßt. Z w e ife llo s kann man
   g r iff das N ä c h s tlie g e n d e a u f, das zu r E rle ich te ru n g d ie n e n ko n n te . Sie                  eigentlich nicht noch m ehr von den Menschen verlangen. Und nur allzu v e r­
   m achte d a b e i w e d e r sich, noch den a n d e re n e tw a s v o r. W ie sie in v o lle r                        ständlich ist es, daß sie bei dem erdrückenden G rau d e r Tage a u f ein Er­
   G elassenheit e in e r schweren Strafe entgegensah, so gab sie uns im m er                                           eignis w a rte n , das den trübe verhangenen Him m el zerreiß t, um endlich den
   peinlich genaue und nichts ve rheim lichende o d e r verschönende M itte ilu n g e n                                 H offnungsstrahl sehen zu lassen.
   ü b e r den Stand d e r Ereignisse. A u f ihre O rie n tie ru n g ko n n te m an sich v e r­
  fa s s e n . Sie ve rsp ra ch nie v ie l, d a fü r h ie lt sie um so m ehr.                                           W a s w ird uns das M org e n , das kom m ende Ja h r 1948 b ringen? „N ich ts
                                                                                                                        A u ß e rg e w ö h n lic h e s , es g e h t a lle s n ur seinen G a n g ." Ich muß an jene W o rte
    ü b e r d re i Jahre sind seither ve rg a n g e n , und w ir gehen nun dem Ja hr 1943                               von Jutta denken. A b e r die W e lt ist einem gesetzm äßigen W a n d e l unter­
                                                                                                                        w o rfe n . Und es m uß uns g e lin g e n , uns w ie d e r in ihrem z w a n g s lä u fig e n
    entgegen.                                                                                                           A b la u f e in z u g lie d e rn . Es g e lin g t um so eher, je m ehr d e r e in ze ln e das N ä ch st­
    Sicher haben w ir bei der U nzahl der A u fg a b e n , die v o r uns liegen, kaum                                   lie g e n d e tu t, je k la re r e r ü b e rsie h t, w as d ie H ilfe s te llu n g im k le in e n U m kreis
    Z e it, rü c k w ä rts zu sehen. Ist es doch so, als o b w ir aus einem g ro ß e n , a lle s                        schafft. Denn das Ethos d e r G em einschaft w ird unsere sicherste Rettung sein.
    v e rs c h lin g e n d e n S um pf Stück um Stück eines in tausend Scherben ze rs p ru n ­
    genen G egenstandes heraussuchen müßten. V ie lle ich t ist a b e r g e ra d e je tzt                               „M a n kann im m er noch m ehr a ushalten, als man denkt, w enn es so sein
    der Rückblick w ichtig genug, denn-in der Rückerinnerung finden w ir manches                                        m uß." So sagte Jutta. M ir schien sie bei a ll ihren W idersprüchen der v e r­
    M om ent, das uns die G e g e n w a rt ebenso w ie die Z uku n ft anders betrachten                                 k ö rp e rte M o to r des Lebens zu sein. Ich w e iß nicht, w o sie g e b lie b e n ist.
    lassen d ü rfte , als w ir es u n ter d e r Bürde des h eutigen Daseins zuw ege                                     A b e r ich b in sicher, d a ß sie auch heute eine v o n denen ist, d ie ohne v ie l
    b rin g e n .                                                                                                       W esens aus ihrer arm seligen, jedoch deshalb nicht w e n ig e r verpflichtenden
    Im m er g a b es Z e ite n , w o d ie M enschen le id e n m ußten und w o dann d ie Be­                             deutschen Position den besten Beitrag zu d e r W ie d e re rrich tu n g einer v e r­
    w ä h ru n g sp ro b e vom Einzelnen v e rla n g t w u rde . Auch d e r Krieg von 1914/13,                          n ü n ftig e n W e lt le iste t, indem sie in s tä n d ig e r W a c h s a m k e it schnell und
                                                                                                                        resolut tu t, w as d e r je w e ilig e A u g e n b lick von ih r v e rla n g t, indem sie ohne
                                                                                                                        Rücksicht a u f sich — h ilft, w o es n ur m ög lich ist. Denn sie h ie lt im m e r m ehr,
                                                                                                                        als sie versprach.
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