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förmlich, denn die Stirn schmerzte, und w enn sie nachher in den Spiegel sähe,
w ürde sie rote M ale erblicken. A ber sie w ü rd e nicht in d en Spiegel sehen,
genau so wenig, wie sie singen würde.
W e n n du singst, bist du nicht m ehr allein, ein Zweites ist d a . W o r t und Ton,
G efährle und Beschützer.
W ie a b e r w a g te eine Kehle sich des Liedes zu bedienen, um Furcht zu v er
treib en , w en n es doch Furcht ist, die laut w e rd e n will, bersten d sich trei-
machen. Schreie würden aus der willenlosen Kehle stoßen, wenn man ihr
nur den ersten Ton verstattete, bis die Leute zusammenliefen und Charlotte
nehmen würden und dorthin tun, w o sie i h n hingetan hatten, den sie nicht
Herausgaben, ob sie auch schrie, lautlos, die Tage hindurch und die Nächte
hindurch.
Brennend, w ü rg e n d vom u n g e h ö rte n Schrei ist d ie Kehle, d ie kein Lied m ehr
e n tlä ß t in C h a rlo ttes Einsamkeit, und d ie S tunden versinken in d e n T ag e n
und die T ag e in d e n W o ch e n , und niem and kommt, nicht einm al d ie W ä s c h e
wird gebracht, denn die Tochter d e r Frau Linke sa g te am Telefon, die
Kunden m üßten sich jetzt alles holen lassen, d e r Bruder w ä re nicht mehr
bei ihnen.
Ach, sagte Charlotte erstaunt, und dachte der arm en Mutter und ihrer sorgen
vollen W ac h sa m k e it. W o ist e r d e n n ?
Er h ä t t e e in e Kutscherstelle — w o a n d e r s , e r w i d e r t e d i e Tochter.
W ie unfreundlich sie ist, fa n d C harlo tte, w ie kurz a n g e b u n d e n . W ie a n d e rs
doch die alte Frau war.
Als es klingelte am späten Nachmittag, lief Charlotte, des furchtbaren
Alleinseins satt, durch d en Korridor, öffnete die Tür, viel zu weit, viel zu
rasch, jeder Vorsicht bar, da w ar es der W äschem ann, der draußen stand,
d e r Sohn d e r allen Frau Linke, und er sag te, er brauche noch m ehr G eld
für die Flundern, vierundzw anzig M ark langten nicht, und er brauche auch
Zigaretten.
Ist d e r Herr nicht d a , f r a g te er, und schob seinen Fuß zwischen Tür und
Angel, einen Klotzstiefel, schwer von feuchtem Lehm.
Es w a r d e r le h m i g e Stiefel, d e r C h a r l o t t e auffie l u nd ihr U n b e h a g e n v e r
ursachte. Sie dachte nicht: Sandkuhle und Tegeler Forst, sie dachte nur:
W ie ungezogen, so den Fuß zwischen Tür und Angel zu schieben.
D er Bursche grinste und s ta r r te C h a r lo tte a n , u n erträg lich d e r Blick, und
d e r M und — w ie d e n n M u n d , M und ist gut, zärtlich menschlich — , d ie
Lippenwülste so dicht vo r ihr. Und es w ü rd e ihr nicht gelingen, die Tür zu
schließen, d e r Keil, d e r Keil zwischen M en sch en n äh e d r a u ß e n und die ein
zelne Charlotte hier drinnen geschoben, unverrückbar —
Sprechen, reden — nicht stehen und abw arten . . .
A b e r sprich du, w enn es dir fa u stg ro ß in d e r Kehle sitzt, w ü rg e n d jeden
Laut erstickt. Und was überhaupt w ürde sie dem vor der Tür sagen? Daß
sie kein Geld mehr gibt für Flundern, d a ß die Zigaretten zu Ende sind, d a ß
der „Herr" nicht hier ist? Rufen nach ihrem Mann, das w äre das klügste,
d en geliebten N a m en laut rufen, tun, als w enn er hinten w ä re in de n a b
g e le g e n e n Zimmern. Und sie v erm o c h te es nicht, d e n N a m e n , d e r heilig ist
für sie, d e r laut nur wird im inbrünstigen Beten, trügerisch auszuspielen.
Er ist nicht schlecht, t ö n te ihr im O h r d i e b lin d e m ütterliche G l ä u b ig k e i t, d ie £)földc I N D E R D Ä M M E R U N G
q u ä le n d e Ahnung sich selbst nicht eingestand.
Es tut mir leid um Ihre M u tte r , sie w a r e in e g u t e Frau, s a g t e C h a r l o t t e leise,
als es ihr gelang, zu sprechen.
Da schien es, als ob der Mensch draußen vor unsichtbarer Hand zusam m en
schrak, die ihn anrühren wollte, strafend, streichelnd, w er w eiß es denn.
Der Keil zwischen A n g el und Tür, zw ischen B esteh en und V e rg än g lich k e it Kennen auch Sie die große Familienangst vor der Dämmerung? „Unterbrich
geschoben, d e r Klotzenstiefel, vom Lehme schwer, d e r Teufelshuf zo g sich
zurück. Und wie er wich, wich auch das Gesicht, das wenig menschliche, und jetzt d ein e Schularbeit, Kind, du verdirbst dir sonst die A ugen. a.. einer
sein gieriges G rinsen ü b e r gedu ck tem Hals vo r d e r sich schließenden Tür.
k leinen W e i l e lä ß t M u tter s e lb s t d ie Flickarbeit sinken: «J6 ^ a n n lc a .
wirklich auch nichts m ehr sehen." Aus einer a n d e re n Ecke: „Können wir nie
Charlotte schüttelte sich, rief sich zur O rd n u n g , beschw or die gute Alte, jenes Licht m achen, M u tte r? " D enn ein kleiner Exkurs ü b er Sperrstu n d e Strom
»Er h a t h a lt nich g e l e r n t " — nein, d a c h t e sie, nicht e in m a l w i e m a n sich v o r
fremden Türen benimmt. kontingent oder untragbar hohe Lichtrechnung, je nach dem Schaupla z leses
Sie schlief traumlos, der M orgen kam mit Einkauf und Zeitungholen, denn
in H aushalte, w ie d e r ihre es w a r, w u rd e n auch Z eitungen nicht m ehr g e a ll a b e n d l ic h e n Zwischenspiels. A llg e m e in e s S e u f z e n : „M utter, e s is |a s o o o
liefert.
Sie sa ß im Sessel e rm a tte t und lahm w ie die W äsch e frau dam als, a uf ihrer langweilig." Das stumpfe Dahindämmern wird nur gelegentlich un er roc en
Stirn stand Schweiß. Vier Treppen sind hoch und steil, und nicht davon feuch
tete sich ihr die Haut, nicht d e sw e g en s a ß sie mit tau b e n G liedern und konnte vo n v e r ä r g e r te n B em erkungen ü b e r die N o t d e r Zeit, von kleinem in ernen
S|ch nicht rühren.
»Linke" stand in d e r Zeitung, d a s A u g e fing sich d e n w o h lb e k a n n te n N a m en . Zank und Streit. Aus d e r „traulichen D ä m m e rs tu n d e" v on einst ist h e u te oft
Da las sie, was sie sonst zu lesen vermied, ein kleines Absätzchen nur.
eine „traurige Dämmerstunde" geworden. +• t •u
»Der Lustmörder gefaßt, Erwin Linke aus Köpenick, sechsfaches G eständnis
vorläuf]g." W a s e in e re c h te M u tte r ist, d i e w e i ß immer e in e n A u s w e g . ^ ,e Sinnp.SI? .
V orläufig — h u n d e r t J a h r e m ü ß te ich w e r d e n , für d e n , d e r b ra u c h t mich a m
Hoisten . . . Verlassenheit, der Teufelshuf, der lehmklotzende, zwischen gemütlicher Fam ilienabende von einst. Sie hat auch eigene Emfa e. „ uc
Angel und Tür, die Beschwörung d e r Mutter, und wie es sich, d a s Grinsen,
einmal alle um den Tisch, wir machen ein p a a r Spielchen!
schrecklich geduckte H aupt, und w ie die sechsfache Untat sich nicht zur
'ebenzahl erhöhte. E r s t e r V o r s c h l a g ■■ L ie d e r ra te n
'-h a rlo tte s a ß still, d a s L ähm ende wich d e m Lösenden, d a s Tuch in d e r Hand
£ahm den Schweiß von der Stirn, trocknete die Augen, M u tter k lopft in e in e m b estim m ten Rhythmus a u f d e n Tisch. „ D as sind die
ann lagen ihr die H ä n d e im Schoß. Anfangstakte eines Volksliedes." Alle überlegen. „Bitte, noch em m a . ann
Anneliese: „Alle Vögel sind schon d a !" Anneliese hat richtig geraten. un
Welcher G estalt w ehtest du diesm al durch die N ächte, dachte sie, nicht
/ " “c h tb e l a d e n m e h r u nd nicht v e r la ss e n , darf sie klopfen.
a w urde d er N a m e laut, d er heiliggehaltene, dessen C harlotte sich vorhin Zweiter Vorschlag: D ie W örterkette
H a n n elo re , weil sie einen D o p p e ln a m e n hat, d a rf a n fan g e n . Sie b e g in n t m.t
irgendeinem Doppelwort, zum Beispiel: F e n s t e r b r e t t . Und nun geht es
d ie Reihe herum, immer mit neuen D oppelw orten, d e re n erster Teil der
z w e i t e Teil d e s v o r i g e n W o r t e s ist. Zum Beispiel: Brettspiel — Sp ielu hr
Uhrwerk — W erkm eister . . . W er die W ortkette schließen kann, also hier
z. B. a u f d a s W o r t F e nste r z u rü ck ste u ert, d a r f d i e nä ch ste Reihe starten.
Also geht es weiter: Meisterkonzert — Konzerthaus H a u s f e n s t e r ...
t lügnerisch zu bedienen vermochte. Überraschung, Lärm. Rosemarie hat gew onnen und darf die nächste W ö rter
s ur einer hat mich so beschützt, nur einer, sa g te C harlotte vor sich hin,
kette beginnen.
^ w 'ederh o len d , wie G e b e t sich w iederholt in Fürbitte und D anksagung.
D ritter Vorschlag: D aldal - Geschichten
lQle s tu m m e n W ä n d e n a h m e n d i e Botschaft a u f , d i e l e e r e n Stühle, d a s ver-
Diesmal beginnt Rosemarie. Sie erzählt eine Geschichte, ab er eine G e
ssene Bett. Da w u rd e aus Stummheit ein b rau sen d er Lobgesang. schichte b e s o n d e re r Art. Irg en d w an n einmal m uß in ihr ein W o r t zweimal
hinte rein a n d er Vorkommen, möglichst in zw eifacher Bedeutung. Dieses zwei
ur einer, tönte es Enqels Stimme, und die Sphären begleiteten die Ver fache W o rt a b e r spricht sie nicht aus, sondern sagt statt dessen, wenn es
sündigung. '
Diese Erzählung ist der dritte und letzte Teil der Reihe „Schutzengel“

