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DAS ANGENOMMENE

               Jn A m e rik a is t es g e ra d e z u „T A ode“ g e w o rd e n , K in d e r z u                          Für d ie A n n ah m e eines fre m d e n Kindes in m ein er Lage scheint mir die
               adoptieren . D ie Sdbauspielerin Joan C raw ford hat beispielsw eise                                     wichtigste V orau ssetzu n g zu sein, d a ß m an d a s Kind in einem A lter zu
               vier K in der angenom m en, P earl S.Budk, die bekannte Sdhriftstellerin,                                sich nimmt, in d e m sich sein e ig e n e s W e s e n schon entw ickelt hat, d a ß
                                                                                                                        m a n sich in sein W e s e n ein fü h len und d a ß m a n m öglichst e ig e n e Z ü g e
               sogar fünf. D ie Q ründe, aus weldhen Aiensdhen frem de K in der als                                     e n td e c k e n kann. W o h l s te h e ich zu r B e d eu tu n g d e r E rziehung für d ie
               eigene zu sidb nehm en, m ögen seh r versdbiedene sein, u n d — g inge                                  Entwicklung eines Kindes, unterschätze keinesw egs das Milieu und den
               m an ihnen nadh — w ü rde m an o ft differen zierte psydhologisdlje                                      G eist, in d e m d a s Kind se in e H e im a t und se in e G e b o r g e n h e it finden
               Z u sa m m en h ä n g e zu ta g e fördern . Eines kann m an a b er w o h l in                           soll, und die W ichtigkeit, in d em Erzieher d e n Freund zu finden, a b e r
               jed em P all sagen.- ein soldher E ntsch luß is t a u ßergew öh n lich p o sitiv                        auch d en G eg n er, an dem d a s Kind seine eigenen Kräfte m essen und
               u n d ein w irk lic h e r A k t tä tig e r N ä c h s te n lie b e . Jn e in e r Z e i t w ie d e r      entw ickeln kann. Auch g la u b e ich, d a ß für ein gutes Ergebnis entschei­
               unsrigen, d a in d e r g a n ze n "Welt ein erseits viele K in d e r eltern los                         d e n d ist, d a ß d a s M ilieu d e m d e s E lte rn h a u s e s m ö g lich st entspricht. D as
               gew orden sind und andererseits viele Erwachsene einsam , bringen                                       w a r natürlich in unserem Falle nicht nur schwierig, so n d e rn unmöglich
               die A doptionen doppelten Segen: sow ohl den A doptierten als                                           o b des Schleiers d er V ergangenheit. A ber vielleicht kann m an doch
               auch den A d o p tieren d en ist m it diesem Schicksalseingriff geholfen.                               Anhaltspunkte gelten lassen aus d er Form des Aussehens und der H ände.

Jch h a b e mir im m er sechs B uben                                                                                   A b e r ich v e r k e n n e n atü rlic h nicht d a s s c h w e r e G e w i c h t d e r A n l a g e n , d i e
         und sechs Dackel, ein großes                                                                                  oft allen erzieherischen Bemühungen trotzen. Der C harakter eines
        Haus mit G arten und möglichst einer                                                                           Kindes in diesem A lter ist e b e n doch noch nicht g a n z ü b e rse h b a r, auch
Hühnerfarm gewünscht, also einen                                                                                       nicht fü r d e n in d e r W e s e n s b e u r t e i l u n g e in e s Kindes e i n i g e r m a ß e n G e ­
sehr lebendigen Betrieb. Das Schick­                                                                                   übten. A ber sind nicht eig ene Kinder auch im m er ein gewisses Risiko?
sal hat es anders entschieden, g e­                                                                                    Und d an n h ab en die Eltern noch immer ein b eso n d eres G efühl d e r V er­
w ährte mir statt dieser W ünsche ein                                                                                  antw ortung unerwünschten Eigenschaften gegenüber.
K inderkrankenhaus mit 100 k le in e n '
und kleinsten E rd e n b ü rg e rn in aller                                                                            K aspar nahm die neue W e lt mit Begierde und frischer Kraft auf, fühlte
ih re r H ilfsbedürftigkfeit, u n d ich k o n n t e                                                                    sich gleich w ohl, verglich w ohl m anchm al mit d e r alten U m g eb u n g und
eigentlich zufrieden sein. A ber die                                                                                   stellte mit Befriedigung seine Vorteile fest, w äh ren d Christian alles g e ­
ew ige ungestillte Sehnsucht bleibt                                                                                    la s s e n e r a u fn a h m . Er f a ß t d a s L eben noch sp ie le risch er au f, sin g t und
doch in uns alleinstehenden F rauen unser Teil, und so sprach es mich                                                  träum t, b e so n d e rs mit lau ter Stim m e a u f d em Ö rtchen, ist e rstau n t und
d och seltsam an, als eines T ages ein kleines Büblein in unserem K ran­                                               manchm al em pört, d a ß die Erwachsenen seine Kreise stören. „W enn
kenhaus seine Ärmchen um meinen Hals legte und kategorisch er­                                                         d u m al t o t bist, k a n n ich alle s so m a c h e n , w ie ich will, g e l t ? " K a s p a rs
klärte: „Du könntest eigentlich m eine Mutti sein, jedes Kind hat eine                                                 W e lt ist lebendig, e r ist praktisch, p h an tasiev o ll: „Fliegt d ie to te Am sel
M utti, u n d ich h a b e k e in e un d b r a u c h e d o c h a u c h e in e ! " — D e r k le in e                     je tz t a ls Englein in d e n H im m e l? " — o d e r , a ls ich e in m a l e r k lä rte , d a ß
Kerl, seh r klein a n W uchs, fiel überall durch seinse lb stän d ig es und                                            d e r liebe G o tt im Himmel alle M enschen b eh ü te, d a ß hien ied en d e r
sicheres W esen, seine offene und aufgeschlossene Art und seineKlug­                                                   N ach tw ä ch ter nachts d a fü r so rg e, d a ß uns kein Leid g esch äh e, m einte
h e it a u f. Er w e i ß g e n a u , w a s e r will, un d ru h t nicht, bis e r a m Z ie le                            er rasch entschlossen, d a ß ihm a b e r d e r N achtw ächter lieber und sicherer
ist. Ich w a r e in ig e T a g e s e h r b e s c h w e r t v o n d ie s e m Erlebnis, un d m ir
fielen a lle R a tsc h läg e ein, d ie ich F ra u en e rteilt h a tte , d i e K inder o h n e                                                                                       sei! M ärchen, je gruseliger, desto
S t a m m b a u m a d o p t i e r e n w o llte n . Ich h a b e d o c h a u s m e in e r f ü r s o r g e ­                                                                           schöner, begeistern sie beide gleich,
rischen Tätigkeit und als Kinderärztin einige Erfahrungen mit solchen                                                                                                               wenn nur zum Schluß die ausgleichende
Kindern, und erm utigend w a re n sie nicht. Denn d ieser kleine Bursche,                                                                                                           G erechtigkeit einsetzt. Ihre neue M utter
d e n ich d a n n K a s p a r n a n n t e , ist e i n F l ü c h t l i n g s k i n d , d a s m i t 2 V2 J a h r e n in                                                               lieben sie b eide gleich zärtlich und
Krossen an d e r O d e r 1945 mit einem a n d e re n Kind, w ohl seinem Bruder,                                                                                                     m it g le ic h e r H i n g a b e . W e n n ich a b e n d s
im A lter v o n e t w a z e h n M o n a te n völlig v e r h u n g e r t in a lte n L um pen im                                                                                      nicht d a bin, m u ß K a s p a r in m einem
P ark a u f g e f u n d e n und von fre m d e n Leuten nach Berlin in ein K inder­                                                                                                  Bett e i n s c h la fe n — „ d a f ü h le ich dich
heim g eb rach t w orden w ar, w o die beiden mit vieler M ühe und viel Liebe                                                                                                       dann doch" — .
g ro ß g e z o g e n w urden. Kein N am e, keine D aten sind bekannt, ein
Schleier ru h t ü b e r ihrer V e r g a n g e n h e it. Als ich schließlich o b d ie s e s                                                                                          Nach seinem V ater verlangt Kaspar
W in k s d e s Schicksals in d e m Heim v o rsp ra c h , w u r d e mir dies e rö ffn e t —                                                                                          immer w ieder, hat auch schon alle
v o n d e m B ru d e r h a t t e ich nichts g e w u ß t . M a n w o llte n u r d i e b e i d e n                                                                                    möglichen Leute seiner Verehrung,
K inder z u s a m m e n in P flege g e b e n , w eil sie d e m A u s se h e n und Schicksal                                                                                         vor allem Straßenbahnschaffner, für
nach doch wohl Brüder seien. W eg en Kaspar seien schon viele Inter­                                                                                                               diese Rolle au sersehen. S p äter will
essenten dagew esen, aber zwei Knaben wolle doch niemand nehmen.                                                       e r n a c h R u ß la n d u n d f r a g e n , w o se in V a t e r ist. Als ich m e in te , m a n
A uf d em Ju g e n d a m t b e d e u te te m an mir, m an w ünsche v o r allem K aspar                                 wisse doch nicht, wieer heiße, m einte er, d azu g en ü g e „V ater". Die
einen V ater zu geben, w eg en seiner praktischen Eigenschaften, auch sei                                              alte M utter brauche er nicht mehr. W en n sie a b e r d ann k äm e? „Ach,
das Leben einer berufstätigen Frau nicht das richtige Milieu für das                                                   d a s m a c h e ich d a n n s c h o n ." D a s ist se in Beschluß.
Kind, für die Kinder. Der Bruder Christian gefiel mir beim ersten Besuch
nicht s o se h r, e r ließ noch nicht viel e i g e n e S tru k tu r e r k e n n e n , u n d ich                        W ich tig finde ich, d a ß solche K inder v o n früh a n wissen* d a ß sie nicht
w a r mir nicht g a n z sicher, o b mir dieses Kind so „liegen" w ü rd e w ie                                          die eigenen Kinder d er Pflegem utter sind. W ieviel schw ere Konflikte
K a s p a r. Er w a r w e n ig d isz ip lin iert, v e rs p ie lt, a b e r se in lie b e v o lle s W e s e n            e n ts te h e n o ft in d e r P u b e r tä t o d e r jenseits d e r P u b e rtä t, w e n n es d ie
w urde mir geschildert.                                                                                                Kinder eines Tages — meist von anderen — erfahren; und wie viele
                                                                                                                       h a b e n sich sp ä te r voll Groll aus einer U m g eb u n g losgerissen, d ie ihnen
Von allen Seiten, besonders m einer Familie, kam en ernste W arnrufe! Die                                              nur dasBeste an Liebe undglücklicher Ju gendzeit verm ittelt hatte, um
V erantw ortung sei zu schwer, mein Pflichtenkreis zu groß, um auch noch                                               in ihr a lte s und eigentliches M ilieu zu rü c k z u k e h re n .
die erzieherische A ufg abe dieser Kinder zu leisten, die Entwicklung d er
K i n d e r sei n o c h u n ü b e r s e h b a r . Es k a m e n H i n w e i s e a u f s o v i e l U n g l ü c k         Schwierigkeiten m achte anfangs, d a ß den Kindern das Heimatgefüh!
durch solche Kinder ungewisser Abstam m ung und auch darauf, d a ß die                                                 völlig fehlte. Mit jedem w aren sie bereit, m itzugehen; w o es ihnen g e ­
Erziehung von K naben eine hauptam tliche Beschäftigung sei. Alles Ein­                                                fiel, d a w o llte n sie b le ib e n , un d ich
w ä n d e , d i e ich mir au ch täglich s e lb e r m ach te. A b e r es g a b au ch solche,                            mußte manchen Schmerz verbeißen,
die fanden, nachdem sie die Kinder gesehen hatten, das Zusam m en­                                                     wenn Kaspar nach einer Strafe er­
finden sei d as Richtige für uns drei! Trotz aller dieser Seelennöte w ar                                              klärte-. „ D a n n g e h e ich e b e n w ie d e r
ich s e l b e r ü b e r mich e r s t a u n t , m it w e l c h e r S ic h e rh e it un d eig en tlich Un-               nach Berlin". A ber diese G efühle d er
b e ir r b a r k e it ich d ie s e m P lan e n a c h g in g und ihn v erw irklichte. T ro tz und                       inneren Bindung müssen eb en Zeit
alledem fand en wir uns zusam m en. H andlungen aus Instinkt und der                                                   haben, langsam zu reifen. Als Christian
Ü b erzeu g u n g , d a s Rechte zu tun, lassen sich mit V ernunftgründen auch                                         von einer Reise zurückkehrte, meinte
nicht aufhalten.                                                                                                       e r a b e n d s : „Bei euch g efällt es mir
                                                                                                                       nicht", w as K aspar mir am and eren
                                                                                                                       M orgen als erstes em pört meldete.
                                                                                                                       „A ber uns gefällt es gut, gelt, Mutti?"
                                                                                                                       Er w o llte d a r a u f h in C h ristian d u rc h a u s
                                                                                                                       gegen einen jungen Hund eintauschen!
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