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Heimat und Vaterland sind zwei Begriffe, deren vermutete Verwandtschaft darin    besteht, d a ß sie oft nichts m iteinander zu tun haben, deren häufige Verwechslung jedoch namenloses
Unalück über die Welt gebracht und Millionen Menschenopfer gefordert hat.        G e r a d e wei l d e r ö s tl ic h e Ber eich D e u t s c h l a n d s — u n s e r Bild z e i g t e i n e n Blick a u f d i e L a n d e s k r o n e in.
Schlesien — nach Meinung unserer östlichen Nachbarn nicht in die Debatte um      Heimat und Vaterland gezogen werden darf, sollten wir Deutschen gegenüber allen östlichen Sirenen­
gesängen von der Einheit unseres Vaterlandes so hellhörig wie nur möglich sein.  DieseEinheit w äre genau wie unter nationalsozialistischem Vorzeichen die Einheit eines Zuchthauses.

WO SI ND DIE GRE NZ E N ?

                                                        VON KLAUS-PETER SCHULZ

^ ast jeder von uns erlebt in sich noch un­             Nur wenige Einsichtige wissen um Auswege aus der Not                        sozialen und moralischen Verfalls verwandelte.
                                                                                                                                    DieseTatsachen schreien unstagtäglich entgegen,,
willkürlich die Nachwirkungen jener bitteren            unserer Zeit. Die Masse der Menschen a b e r findet diese                   über sie wird viel gesprochen und geschrieben,
und bittersten Jahre, die den Begriff vom                                                                                           obwohl auch heute noch Millionen aus Feig­
„V aterland" im g a n ze n Ausmaß seiner entsetz­       Auswege nicht, weil neue unechte Mythenbildung ihnen                        heit oder bestenfalls Trägheit des Gewissens
lichen Möglichkeiten offenbarten und die                                                                                            ihre Augen vor ihnen verschließen. Aber die
Millionen von Menschen im unbarm herzigen               die Sicht versperrt. Auch die B ew ohner Südtirols im                       Zerstörung der Heimat griff tiefer: sie bedrohte
Rhythmus einer modernen Völkerwanderung                                                                                             die Wurzeln unserer menschlichsten Existenz,
ihrer Heimat beraubten. Grenzsteine werden              österreichisch-italienischen G r e n z ra u m — unser Bild zeigt            sie rührte an das Stillste und Verborgenste,
verrückt, ohne die betroffene Bevölkerung nach                                                                                      das, für niemanden greif- und berechenbar,
ihrem Willen zu fragen, wobei es grundsätz­             e in e n Blick a u f M e r a n — n e i g e n d a z u , nicht ü b e r d e n  dennoch in seinem ungeheuren und ewigen
lich nichts ausm acht, o b d ies er nüchterne Pro­                                                                                  Vorhandensein wenigstens als Abglanz unsere
zeß nur wenigen oder vielen Hunderten von               Blickbereich des eigenen Kirchturms hinauszusehen und                       Herzen und Hirne erleuchtet.
Kilometern gilt. Die Flüchtlinge, die als ver­
armte und entwurzelte Scharen von Zone zu               das W ort „Vaterland" zum Grundstock einer Mythenbildung                    Die Heim at eines Menschen ist immer die Stätte
Z one, von Land zu Land zie hen, se hen sich in                                                                                     seines erwachenden Selbstbewußtseins. Dieses
ihrer neuen Umgebung oft so viel Fremdheit              w erden zu lassen.       Aufnahmen: Mauritius                               Selbstbewußtsein kann in langen Ahnenreihen
und Feindseligkeiten gegenüber, d aß ihnen der                                                                                      vorgeform t sein o d e r plötzlich wie d e r Blitz­
Klang der gleichen Sprache erscheinen mag                                                                                           schlag einer Erkenntnis durchbrechen und G e ­
wie Lug und Trug. W o blieb in diesem v e r­                                                                                        stalt gewinnen, wie bei dem armen Proletarier­
wirrenden Chaos die Heimat, wo blieb das                                                                                            sohn aus Wesselburen, Friedrich Hebbel, der
Vaterland? Haben sie ihren W ert verloren,                                                                                          einer der größten deutschen Dichter wurde. Je
 ja haben sie überhaupt jemals W ert besessen?                                                                                      nachdem, was einer an geistiger und seelischer
 Gibt es Lösungen eines derartigen tragischen                                                                                       Substanz mitbringt, kann sein Heimatgefühl
 Dilemmas, Lösungen, die immer nur durch eine                                                                                        sich an einen Ort, an einen Flecken, a n ein
 echte schöpferische Tat gefunden werden?                                                                                            Haus und einen Garten binden oder darüber
                                                                                                                                     hinaus an vielen O rten mit gleicher Kraft hei­
 Eine solche Tat ist möglich, a b e r nur als A n­                                                                                   misch sein, ja im extremsten Falle die g a n z e
 liegen der Gesamtheit, nicht einzelner. Vor                                                                                         Welt umfassen. Das echte Genie kennt wohl
 allem entscheidet nicht sie allein, sondern in                                                                                      kaum jempls eine andere Heimat als die Welt,
 erster Linie die b e sse re Erkenntnis, die a n ihrem                                                                               d a es in den Bezirken seiner Einsamkeit nur
 Anfang stehen muß.                                                                                                                  wenig G efäh rten findet, mit d en en es über die
                                                                                                                                     Pseudowirklichkeiten von Raum und Zeit hin­
 Ein Beispiel von e rsch ütternd er W ucht erspart                                                                                   weg in unm ittelbare Verbindung treten könnte.
 vielleicht viele trockene Definitionen: Die markt­                                                                                  So ist die Heimat, je nach d e r Betrachtung,
 schreierische Reklam e de s Hitlersystems mit                                                                                       etwas zu gleicher Zeit Flüchtiges und Konstan­
 dem Begriff „V aterland" zerstörte uns allen die                                                                                    tes. Manch einer, d er sie nur a u ß e r sich findet,
 Heimat nicht nur äußerlich dadurch, d a ß der                                                                                       verkom m t und v e rd o rrt, w enn er von ihr g e ­
 von Hitler heraufbeschworene Krieg unsere                                                                                           trennt wird; ein a n d e re r, d e r sie in sich trägt,
 Fluren v e rw ü stete und unsere S tä d te in Schutt                                                                                vermag sie an jeden Ort zu verpflanzen und
 und Asche sinken ließ, unsere Grenzen ver­
 ä n d e rte und Deutschland jahrelang in eine Stätte
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